Vollblut in der Reitpferdezucht

Ausführungen von Landstallmeister a. D. Dr. Gerd Lehmann zur Bedeutung des Einsatzes von Vollblut in der Reitpferdezucht. Sein Fazit: UNVERZICHTBAR!

Warendorf, im Oktober 2010

Zum wiederholten Male wird die vom Warendorfer Rennverein e.V. initiierte Veranstaltung Schaufenster Vollblut unter dem Motto „Vollblut trifft Warmblut“ im Westfälischen Pferdezentrum Münster-Handorf abgehalten. Ihre Vorläufer waren die Vollbluthengstschauen, die das Direktorium für Vollblutzucht und Rennen viele Jahre lang am Tag nach dem „Preis von Europa“ auf der Rennbahn in Köln durchführte. Bedauerlicherweise wurde diese wertvolle Schau, über die viele Vollblutbeschäler den Weg in die Reitpferdezucht fanden, aus dem hippologischen Terminkalender gestrichen.

Die deutsche Vollblutzucht hat in den letzten Jahrzehnten einen enormen Qualitätssprung vollzogen. Das Vollblutpferd aus deutscher Zucht weckt weltweit Begehrlichkeit. Eine Situation, die selbst der kühnste Optimist vor 25 Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Der Zuwachs an Qualität hat die Zahl der für die Reitpferdzucht in Betracht kommenden Beschäler steigen lassen. Dennoch ist der Aufwand, geeignete Beschäler aufzufinden, groß. Der Interessent wird ständigen Kontakt zu Rennbahnen, Trainern und Eignern zu halten haben. Auch der Blick über die Landesgrenzen ist unverzichtbar. Die erfreuliche Feststellung, dass gegenwärtig vermehrt gut modellierte Vollblutstuten in die Reitpferdezucht gelangen, ist der angespannten Marktlage im Vollblutbereich zu danken. Eine willkommene Chance.

Das Schaufenster Vollblut verfolgt die löbliche Absicht, Kontakte zu schaffen bzw. auszubauen.

Die grundsätzliche Diskussion zum Thema pro und contra Vollblutverwendung ist so alt wie die Reitpferdezucht selbst. Tatsache ist, dass alle Hengstlinien von Vollblutbeschälern begründet worden sind. Deshalb ist es ein Fauxpas bei deren Verwendung von Einkreuzung zu sprechen. Kreuzungen schaffen Bastarde. Bastarde will niemand!

Erstrebenswert ist der reitgerecht modellierte Vollbluthengst, der viele Starts mit ordentlichen Leistungen über mehrere Rennzeiten hinweg, schadlos überstanden hat. Die Höhe des Generalausgleichgewichts (GAG) ist dabei von nachrangiger Bedeutung.

Die Verfeinerung des Typs ist wegen der fortgeschrittenen Modellumgestaltung in den Reitpferdezuchten nicht mehr vordringlich. Prägnante Konturen und die Trockenheit der Textur bedürfen allerdings der stetigen Auffrischung. Der Charakter des Vollblüters ist, wie der anderer Edelrassen auch, sehr gut; menschenfreundlich. Sein Temperament ist naturgemäß lebhaft. Der ungeübte, ungeduldige oder derb hantierende Mensch kann diese Vorzüge rasch und dauerhaft verspielen.

Akitos xx

Bormio xx

Game Fox xx

Feuerfunke xx

Die Beschäler haben die passende Größe und die gewünschte Substanz. Sie stehen auf einem absolut korrekten Fundament. Die makellose "Konstruktion" befähigt sie zu elastischen, raumgreifenden Grundgangarten.       

Der Vollblüter erscheint als Garant für die Festigung der Gesundheit (Herz-, Lungenfunktion, Sehnen-, Bandapparat, Knochenkonsistenz) und der Konstitution im weitesten Sinne. Gerade sie hat in den zurückliegenden Jahren aus verschiedenen Gründen – nicht zum Schaden der Tierärzte – Einbußen erlitten. Ferner erhofft man die Verbesserung der Leistungsbereitschaft, der Leistungsfähigkeit und der für den Leistungssport so wichtigen Sensibilität. (Neuerdings hat sich die nicht sonderlich sympathisch klingende Floskel: „Sie müssen elektrisch sein“, in den Sprachgebrauch eingeschlichen). Schließlich sind es die reitrelevanten Körperpartien, Genick, Ganasche, Halsansatz, Halsausformung, Schulter/Widerrist, Rückenformation, Lage und Länge der Kruppe, sowie die dem Reitgebrauch entgegenkommende Winkelung der Hintergliedmaßen. Alle die genannten Kriterien befördern im Zusammenspiel die Elastizität, die für ein qualitätvolles Reitpferd unabdingbar ist.

Das Vollblutpferd verfügt in der Regel über einen guten Schritt. Es besteht, wie die Erfahrung lehrt, eine positive Korrelation zwischen Schritt- und Galoppsprunglänge. Der Schritt ist in der jüngeren Zuchtgeschichte in verschiedenen Reitpferdzuchten sträflich vernachlässigt worden. Ein Pferd mit einem schlechten Schritt ist für den Dressursport unbrauchbar. Auch der Freizeitreiter wünscht einen taktreinen, raumgreifenden und fleißigen Schritt.

Der Raumgriff des Trabes wird über den Vollblüter nur in Ausnahmefällen erweitert werden. In den meisten Reitpferdezuchten herrscht hieran kein Mangel. Vermehrt sieht man Pferde mit übertrieben langen Tritten, die aus festgehaltenem Rücken vorgetragen werden. Sie vermitteln ein miserables Sitzgefühl und stehen der Versammlungsfähigkeit entgegen.

Der Galopp des siegorientierten Vollblüters ist aus Gründen des Raumgewinns und der Kraftersparnis flach. Neunmalkluge, im Pferdemetier des Öfteren unüberhörbar, üben zu Unrecht Kritik daran. Sie befürchten eine Reduzierung des Springvermögens. Sie übersehen, dass viele der im internationalen
Springsport agierenden Cracks, Vollblut schon in den ersten Ahnengenerationen führen.

Die Qualität des Galopps wird, wie bereits gesagt, geprägt durch die zweckmäßige Winkelung der Hinterhandknochen zueinander. Die Winkelung ist die Grundvoraussetzung für das kraftvolle Vorschnellen der Kniegelenke. Sie ermöglicht das energische Beugen der Sprunggelenke. Diese Kriterien befördern beim Rennpferd die Länge des Galoppsprungs. Das Reitpferd befähigen sie zu der unverzichtbaren Hankenbeugung.

Das Zuchtziel des Vollblüters ist auf möglichst große Schnelligkeit im Galopp ausgerichtet. Es ist also recht einseitig ausgelegt. Exterieurkriterien scheinen bei Zuchtwahl nachrangig zu sein. Spitzenrennpferde haben dennoch eine aus der Sicht des Reitpferdezüchters dem Ideal nahe kommende Skelettkonstruktion. Beim Besuch von Rennbahnen lässt sich dieses trefflich beobachten. Starter in Klassischen Rennen, Grupperennen und hohen Ausgleichen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Körperbaus nachhaltig von denjenigen Pferden, die im Ausgleich IV ihr Dasein fristen.

Der leistungsstarke Vollbluthengst ist gut „konstruiert“. Er hat dem Reitpferd Modell gestanden!

Das Spektrum der Anforderungen an ein Reitpferd ist breit gefächert. Es reicht vom Spezialisten für die drei olympischen Disziplinen bis hin zum absoluten Verlaßpferd, das den wenig routinierten Reiter gefahrlos „spazieren trägt“.

Der klassische Ausbildungsweg, niedergelegt in der HDV 12 (Heeresdienstvorschrift von 1912), trägt den Ansprüchen edler, leistungswilliger Reitpferde Rechnung. Aus vielfältigen Gründen fehlt heute zu oft die Bereitschaft - oder die Fähigkeit -, den erprobten Weg, der zeitaufwendig ist, Geduld und Feingefühl erfordert, zu beschreiten.

Nachteilig für die Nachkommen edler Hengste wirken sich die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelten Leistungsprüfungsmodelle für Reitpferdehengste aus. So ist beispielsweise die von 100 Tagen auf 70 Tage reduzierte Stationsprüfung für alle Probanden zu kurz. Die Erfolgschancen der reiterlich später reifenden Vollblutsöhne werden minimiert. Schon die 100 Tage währende Stationsprüfung ließ edle, genetisch wertvolle Leistungsträger, sicherlich auch in gewisser Abhängigkeit vom Prüfungsort, scheitern. Als ganz besonders problematisch erweist sich der 30-Tage-Test in seiner augenblicklichen Durchführung. Die wissenschaftlich verbrämten Untersuchungen, die Prüfungsdauer betreffend, vermag der erfahrene Praktiker – auch bei bestem Willen – nicht nachzuvollziehen.

Wegen der Nutzungsunterschiede waren für die Warmblutzucht prädestinierte Vollblutbeschäler zu allen Zeiten dünn gesät. Das amerikanische Rennsystem sollte nicht für die gegenwärtig zu Unrecht beklagten Auffindungsschwierigkeiten herhalten. Ohne Zweifel verändern kürzere Distanzen das Pferdemodell (Quarterhorses). Die Distanzen der Klassischen Rennen wurden in allen mit dem Rennsport ernsthaft befassten Ländern nur in Ausnahmefällen geringfügig verändert. 

Das Studium der Pedigrees von Spitzensportpferden in der Dressur, im Springen und in der Vielseitigkeit belegt die Unverzichtbarkeit des Vollbluteinsatzes.
Unser Heimatzuchtland Westfalen hatte vor Jahren das Glück, in der Spitze der „World Breeding Federation of Sport Horses (WBFSH) – Wertung“ angesiedelt zu sein. Die in die Berechnung einbezogenen Leistungspferde waren durchweg, meist schon in den vorderen Generationen, mit Vollblut durchsetzt. Gleiches gilt für die siegreichen Olympiacracks der Jahre 1984, 1988 und 1992.

Zahlreiche zeitgenössische Autoren widmen dem Thema Vollblut interessante Beiträge. In der älteren Literatur finden sich eine Menge wertvolle Hinweise zum Einsatz von Vollblutbeschälern. Unverändert lesenswert sind die Klassiker: Graf Georg v. Lehndorff 1833-1914 (Landstallmeister in Graditz, Preußischer Oberlandstallmeister), dessen Sohn Graf Siegfried v.Lehndorff 1869-1956 (Landstallmeister Neustadt/D., Graditz, Trakehnen, Braunsberg), Burchard v. Oettingen 1850-1923 (Landstallmeister Gudwallen, Beberbeck, Trakehnen, Preußischer Oberlandstallmeister), Franz Chales F. de Beaulieu 1899-1993 (Generalsekretär des Union-Clubs; nach 1945 des Direktoriums für Vollblutzucht und Rennen).

Die genannten Hippologen verfügten über einen in der heutigen Zeit nahezu unvorstellbaren, praktischen Erfahrungsschatz.


(mit freundlicher Genehmigung entnommen aus dem Katalog “Schaufenster Vollblut” 2010)

Zurück
Zurück

Dr. Lehmann im Interview

Weiter
Weiter

Vollblut in Zucht und Sport